Aufnahmeprüfung in die Pseudo-Demokratie
Schweiz auf EU-Kurs
Wie der Bundesrat versucht, die direkte Demokratie schweigend in den Ruhestand zu schicken
Ein Kommentar von Christian Oesch
Offenbar absolviert die Schweiz gerade ihre Eintrittsprüfung in den exklusiven Club der “neuen Demokratien“ – jener erlauchten Runde, in der man das Wort Demokratie weiterhin gross schreibt, während man systematisch dafür sorgt, dass niemand mehr mitreden kann. Ich rede von der Europäischen Union (EU).
Die direkte Demokratie? Ein charmantes Erbstück, das man mit viel Pathos in Sonntagsreden erwähnt, aber im Alltag besser irgendwo im Keller verstauben lässt – gleich neben der alten Bundesverfassung.
Noch ist das Examen nicht bestanden, aber die Schweiz ist auf gutem Weg. Bei der WHO (Weltgesundheitsorganisation) hat man sich bereits durch die Pflichtfragen gearbeitet – Mindestpunktzahl erreicht. Nun geht es um den Leistungsteil: Wer mit Auszeichnung brillieren will, und das will die Schweiz natürlich, muss sich durch das EU-Dossier kämpfen – möglichst ohne Mitsprache, ohne Transparenz und ohne Ständemehr. Denn nur so beweist man wahre Reife in Sachen postdemokratischer Anpassungsfähigkeit.
Ohne Transparenz lässt sich besser schummeln
Was es für die Aufnahme in diesen erlauchten Kreis braucht? Ganz einfach:
- Entmachtung der Kantone – schliesslich sind föderale Strukturen hinderlich, wenn man grosse Pakete zentral durchpeitschen will.
- Referenden möglichst vermeiden – notfalls, indem man heikle Verträge einfach geheim verhandelt und erst nach der Ratifizierung präsentiert.
- Vernehmlassungen durchführen – ja, aber bitte so spät, so intransparent und so komplex, dass sie nur noch als symbolisches Ritual durchgehen.
- Transparenz nur dort, wo sie nicht stört. Ansonsten hilft ein freundliches „Kein Kommentar“ oder ein Verweis auf laufende Gespräche.
Und die EU-Verträge? Laut FDP-Aussenminister Ignazio Cassis auf keinen Fall dem obligatorischen Referendum unterstellen – denn sonst könnten Bürger bei anderen Verträgen ja auch noch auf die absurde Idee kommen, “ein doppeltes Mehr“ zu verlangen. Nein, da müsse man unbedingt verhindern, dass ein politischer Präzedenzfall für Volk und Stände entsteht. Cassis vergleicht die institutionellen Anbindungsverträge sogar mit Freihandelsabkommen mit China – und spätestens da fällt auch die letzte Maske. Wer das Ständemehr als gefährlich einstuft und 1‘800 Seiten Vertrag nur im “Reading Room“ mit Bleistift einsehen lässt, hat entweder nie ein demokratisches Lehrbuch gelesen – oder das Prinzip der Gewaltenteilung gründlich missverstanden.
Der Reading Room aus dem Agentenfilm
Denn ja, es gibt ihn wirklich: den sogenannten Reading Room. Ein Raum wie aus einem Agentenfilm – abgeschottet, ohne Handy, ohne Kopien, ohne Öffentlichkeit. Sechs ausgewählte Parlamentarier dürfen sich dort durch 1‘800 Seiten Vertragswerk wühlen, mit Bleistift und Notizblock, wie im Archiv des Vatikans oder einer Geheimloge. Für echtes Verständnis fehlt die Zeit, für echte Mitsprache die Möglichkeit. So sieht sie aus, die moderne Demokratieversion, in der Information ein Privileg ist – und Öffentlichkeit ein Risiko. Das nennt man heute fortschrittlich. Oder besser gesagt: “Unsere Demokratie“ – jener neuen, geschmeidigen Version, in der der Souverän zwar alles bezahlen, aber nichts mehr wissen oder entscheiden darf.
Unsere sieben Bundesräte – oder sagen wir ehrlicher: die sieben Traumtänzer – spielen das Spiel brav mit. Warum auch nicht? Der Traum, irgendwann mal einen Milliardendeal per SMS abzuwickeln wie gewisse internationale Kollegen, ist verlockend. Am besten gleich verbunden mit einem hübschen Offshore-Konto auf den Cayman Islands. Schliesslich will man nach der Amtszeit nicht nur die Alpen geniessen, sondern auch ein paar tropische Sonnenuntergänge.
Und überhaupt: Wer braucht schon Volkssouveränität, wenn man sich bei einem EU- oder WHO-Empfang wichtig fühlen darf? Wer will sich mit mühsamen Abstimmungen herumplagen, wenn man stattdessen mit Ursula oder Tedros aufs Gruppenfoto darf?
Die „Demokratie“ von morgen
Nein, liebe Stimmbürger, die Demokratie von morgen ist effizient, gesichtslos und alternativlos. Sie kommt in Form von Rahmenverträgen, Pandemieklauseln und WHO-Notstandsbefugnissen. Sie wird nicht mehr gewählt, sondern implementiert. Wer dagegen aufmuckt, ist halt noch nicht ganz angekommen im 21. Jahrhundert.
Denn Moment mal – reicht es wirklich, nur im Namen des Wertewestens und in der Ukraine die Demokratie zu verteidigen? Hat nicht auch die Schweiz ein Anrecht darauf, endlich so demokratisch zu werden wie die Ukraine, die den Wertewesten so hervorragend repräsentiert? Ein Parlament, das durchwinkt, was vorgegeben wird, eine Presse, die zuverlässig die Erzählung stützt, und ein Volk, das bestenfalls als Stimmkulisse dient – das muss doch auch für die Schweiz möglich sein! Schluss mit dieser unbequemen, direkten Demokratie. Höchste Zeit für ein Upgrade auf „unsere Demokratie“ – effizient, kompatibel, kontrolliert. Deutschland macht vor, wie das geht.
Die Aufnahmeprüfung läuft. Das Resultat ist offen. Noch hätte der Souverän die Chance, sich zu melden – bevor er endgültig aus dem Prüfungsraum entfernt wird.
Noch ist Zeit, aufzustehen. Und das Prüfungsblatt zurückzureichen – mit dem Vermerk: „Nicht mit uns!“
Sondern: Zurück zu den Wurzeln. Zurück zur direkten Demokratie. Denn sie ist kein Auslaufmodell – sie ist das Original. Und das lässt man nicht einfach gegen eine billige EU-Kopie eintauschen, die als Pseudo-Demokratie daherkommt, ihre Bürger maximal drangsaliert statt beteiligt, jede Krise nutzt, um die Schrauben noch enger zu ziehen – und dabei ihren diktatorischen Herrschaftsanspruch systematisch ausbaut.
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