Mehrheit nach Mass
Wie der Bundesrat die Vernehmlassung zu den Bilateralen III frisiert
Symbolbild: Während die EU sichtbar Schlagseite hat, präsentiert der Bundesrat die Vernehmlassung zu den Bilateralen III als „klar mehrheitlich“ – frisch frisiert, trotz Wassereinbruch.
Vorbemerkung: Die gute Nachricht zuerst
Die realistische Zeitschiene für eine allfällige Volksabstimmung zu den Bilateralen III liegt bei 2027 oder 2028. Das ist spät. Und genau darin liegt, bei aller Bitterkeit, die einzige gute Nachricht:
Bis dahin gibt es die EU in ihrer heutigen Form sehr wahrscheinlich nicht mehr.
Was derzeit in Brüssel als «Stabilität» verkauft wird, ist in Wahrheit ein Dauerprovisorium auf Pump: politisch zerrissen, wirtschaftlich asymmetrisch, gesellschaftlich unter Druck, sicherheitspolitisch abhängig. Die Fliehkräfte zwischen Nord und Süd, Ost und West, Nettozahlern und Schuldensystemen sind längst stärker als die Klebstoffe der Integration.
Und genau deshalb diese Eile. Genau deshalb diese Panik. Genau deshalb diese Legitimationskulisse einer Vernehmlassung, die Zustimmung herstellt, bevor überhaupt eine echte Diskussion beginnt.
Denn was hier verkauft werden soll, ist kein Partnerschaftsvertrag, sondern ein Rettungsring für ein sinkendes supranationales Projekt, bezahlt mit Schweizer Souveränität.
Einstieg:
Die wunderbare Vermehrung der Zustimmung
«Der Bundesrat stellte fest, dass eine klare Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden das Paket Schweiz–EU befürwortet.»
So klingt es im Communiqué aus Bern. Beruhigend, nicht? Die Schweiz will die Bilateralen III, alles sauber ausgelotet, demokratisch abgestützt, der Souverän wurde angehört – Haken dran.
Nur: Wenn man den Zwischenbericht liest, merkt man schnell, diese «klare Mehrheit» ist nicht entdeckt worden. Sie wurde produziert.
Und zwar so:
- Man wählt zuerst, wer überhaupt als relevante Stimme zählt.
- Man erklärt über 1’000 Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern zur statistischen Randnotiz.
- Man gewichtet institutionelle Akteure systematisch höher als kritische Bürger.
- Und am Schluss schreibt man den Satz, den man von Anfang an schreiben wollte: «Klare Mehrheit».
Willkommen in der Direkten Demokratie 2.0: Die Vernehmlassung als Kulisse. Der Entscheid als Regieprodukt.
Zahlen, die man lieber nicht gross erklärt
Schauen wir uns das Verfahren zur Vernehmlassung 2025/47 «Paket Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen Schweiz-EU (Bilaterale III)» genauer an.
Im Zwischenbericht liest man:
- 318 Stellungnahmen von «Vernehmlassungsteilnehmenden» (Kantone, Parteien, Verbände, Gerichte, Organisationen usw.).
- 1’058 Einzeleingaben von Privatpersonen.
- Insgesamt also 1’376 Rückmeldungen.
Und jetzt der entscheidende Satz im Bericht: Bei einem «erheblichen Teil» dieser Einzeleingaben sei von einer KI-gestützten Erstellung auszugehen. Deshalb habe keine umfassende inhaltliche Analyse der Eingaben von Privatpersonen stattgefunden.
Mit anderen Worten:
Die 1’058 Bürgerstimmen wurden nicht systematisch ausgewertet, weil bei ihnen ein möglicher KI-Einsatz vermutet wurde.
Das ist eine Zäsur.
Die Schweiz erlaubt seit Jahrzehnten, dass Verbände, Verwaltungen, Lobbyorganisationen und interessierte Kreise seitenlange Eingaben verfassen, häufig mithilfe von Anwaltskanzleien, Ghostwritern und Kommunikationsagenturen. Niemand würde auf die Idee kommen, diese Eingaben zu entwerten, weil sie «professionell erstellt» sind.
Wenn aber Bürger digitale Werkzeuge benutzen, um ihre Gedanken besser zu strukturieren, wird daraus ein Ausschlussgrund. Die Maschine schreibt, der Souverän schweigt.
Faktisch heisst das:
- Institutionelle Stimmen: ausführlich gewichtet, in Grafiken aufbereitet, in Tabellen zusammengefasst.
- Privatpersonen: Randnotiz in einem Absatz, ohne echte inhaltliche Auswertung.
Und die naheliegende Frage, die der Bundesrat konsequent umschifft:
Woher weiss der Bundesrat eigentlich, dass genau diese Verbände, Anwaltskanzleien, PR-Agenturen und internen Rechtsdienste selbst keine KI einsetzen?
Die «klare Mehrheit» ist also die Mehrheit jener, die vorab als relevant definiert wurden.
Zwischenruf:
Mehrheiten ohne Methode: Eine Vernehmlassung ohne Auswertungskriterien
Der Zwischenbericht liefert Zahlen, Balkendiagramme und Prozentwerte, aber keine einzige transparente Auswertungsmethode. Es wird nicht offengelegt,
- nach welchen qualitativen Kriterien Stellungnahmen beurteilt wurden,
- wie widersprüchliche Argumente gewichtet oder zusammengeführt wurden,
- ob identische Argumente mehrfach gezählt oder inhaltlich gebündelt wurden,
- nach welchen Relevanzschwellen Zustimmung oder Ablehnung überhaupt als politisch bedeutsam gelten.
Stattdessen erfahren wir nur dreierlei:
- Nur 318 institutionelle Stellungnahmen wurden wirklich ausgewertet.
Über 1’058 Einzeleingaben von Privatpersonen wurde pauschal entschieden, dass «keine umfassende inhaltliche Analyse» stattfindet mit dem Verweis auf einen vermuteten KI-Einsatz. - Die Prozentzahlen sind ausdrücklich «nicht gewichtet».
Eine kleine Organisation zählt statistisch gleich viel wie ein Kanton, während über tausend Bürgerstimmen faktisch auf null gesetzt werden. - Explizit genannt werden im Überblick ausschliesslich die «ständigen Vernehmlassungsteilnehmenden».
Der Kreis der politisch Relevanten wird also vorab definiert und aus genau diesem Kreis wird danach die «klare Mehrheit» berechnet.
Das Ergebnis ist eine demokratiepolitisch brisante Konstruktion:
Es gibt Zahlen, aber keine Methode.
Es gibt Prozentwerte, aber keine Bewertungsregeln.
Es gibt eine «klare Mehrheit», aber keinen transparenten Weg dorthin.
So entsteht nicht politische Wahrheit durch offene Abwägung, sondern eine Mehrheitsillusion durch vorselektierte Auswertung.
Wer zählt, bestimmt das Resultat – das Vernehmlassung-Trickspiel 2.0
Dieses Muster kennen wir bereits von der IGV-Revision (Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO):
- Der Bundesrat verweigert jede klare Auskunft, wie Vernehmlassungsantworten gewichtet werden.
- Juristisch fundierte, kritische Eingaben verschwinden in einer Blackbox aus «Auswertung nach Vernehmlassungsgesetz».
- Am Ende entsteht das Bild, das politisch gewünscht ist und nicht jenes, das sich aus den Inhalten ergibt.
Übertragen auf die Bilateralen III sieht das Prinzip so aus:
- Kantone, grosse Verbände, «Groupe de Réflexion», Pro-EU-Vereine: diese Stimmen bilden das «Rückgrat» der Vernehmlassung.
- Bürger, kleine Organisationen, kritische Fachleute werden zwar gezählt, aber nicht ernsthaft gewichtet.
- Die Auswertung folgt einem einfachen Drehbuch: Was in Richtung «Mehr Integration, mehr EU, mehr Dynamik» geht, gilt als «verantwortungsvoll» und «zukunftsgerichtet». Kritik an Souveränitätsverlust, dynamischer Rechtsübernahme oder Referendumsfrage wird als «politisch heikel, aber nicht zentral» behandelt.
So entsteht die gewünschte Schlagzeile:
«Klare Mehrheit befürwortet Paket Schweiz-EU.»
Niemand fragt: Wer genau ist diese Mehrheit? Wie viele Bürgerstimmen waren dagegen? Wie viele Vernehmlassungen waren von denselben Netzwerken, denselben Think Tanks, denselben EU-nahen Köpfen?
Dem Souverän wird nicht die Verteilung der Stimmen, sondern die Verteilung der Botschaften gezeigt.
Die Aufwertung der Institutionen und die Entwertung des Volkes
Im Zwischenbericht lässt sich ein Muster beobachten, das sich durchzieht:
- Die KdK spricht «für die Kantone».
- Verbände sprechen «für die Wirtschaft», «für die Gemeinden», «für die Wissenschaft».
- Ehemalige Bundesbeamte und Politiker schreiben im Namen von «Reflexionsgruppen», die sich stolz zu einer «zukunftsgerichteten Europapolitik» bekennen.
Damit entsteht eine Scheinrepräsentation:
- Wer im Apparat sitzt oder ehemals sass, zählt automatisch als «Expertise».
- Wer im Alltag lebt, arbeitet, Steuern zahlt und sich die Zeit nimmt, eine Vernehmlassung auszufüllen, zählt bestenfalls als Zufallsrauschen.
Die direkte Demokratie wird so auf den Kopf gestellt:
- Die abgeleiteten Machtträger (Bundesrat, Verwaltung, Verbände, Think-Tanks) werden zur eigentlichen Referenz.
- Der Souverän wird zur Kulisse.
Dem Ganzen setzt die Bemerkung zur KI die Krone auf:
«KI-gestützte Eingabe» wird zum Vorwand, Bürgerstimmen zu entwerten.
Konsequent weitergedacht heisst das:
- Wenn ein Bürger ChatGPT zur Formulierungshilfe nutzt, ist seine Stimme weniger wert.
- Wenn ein Verband Anwaltskanzleien, PR-Agenturen oder interne Juristen einspannt, ist das «professionell» und damit erst recht relevant.
Das ist nichts anderes als ein Klassenunterschied in der Mitsprache.
Dynamische Rechtsübernahme, statische Entmündigung
Was heute als «institutionelle Innovation» verkauft wird, ist in Wahrheit alte Verwaltungsschule. Ein internes Dokument des Bundesamts für Justiz aus dem Jahr 2004 zu den Bilateralen II zeigt bereits damals schwarz auf weiss, mit welcher Logik gearbeitet wurde:
- Politisch heikle Dossiers nicht einzeln vors Volk, sondern strategisch bündeln.
- Referendumsrisiken nicht inhaltlich klären, sondern prozedural entschärfen.
- Die direkte Demokratie nicht abschaffen, sondern operativ umgehen.
Schon damals wurde offen geprüft, wie Schengen/Dublin, Zinsbesteuerung und Betrugsbekämpfung so miteinander verkoppelt werden können, dass ein Nein möglichst unwahrscheinlich wird. Nicht der Inhalt stand im Vordergrund, sondern die Frage:
«Wie bringen wir das am Volk vorbei?»
Die Bilateralen III sind die Fortsetzung dieser Methode mit digitalen Mitteln und institutioneller Perfektion. Was früher Pakettrick war, heisst heute «Gesamtarchitektur».
Und wieder soll der Souverän nicht entscheiden, sondern abnicken.
Beweiskasten:
2004 – Der Bauplan zur Entmachtung des Souveräns
Im Jahr 2004 veröffentlichte das Bundesamt für Justiz (BJ) einen internen Analysebericht zu den Bilateralen II. Der Text ist kein politischer Kommentar, sondern ein technokratischer Leitfaden, wie internationale Verträge so durch das System geführt werden können, dass das Referendumsrisiko minimiert wird.
Die Kernaussagen dieses Dokuments lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:
- Nicht der Inhalt ist das Problem, sondern das Abstimmungsrisiko.
Der Bericht interessiert sich weniger für die materiellen Folgen der Abkommen als für die Frage, wie man sie abstimmungstechnisch «absichert». - Strategische Paketbildung statt Einzelentscheide.
Politisch heikle Dossiers sollen bewusst mit anderen verknüpft werden, damit eine Ablehnung erschwert wird. - Prozedur schlägt Demokratie.
Die direkte Demokratie wird nicht offen bekämpft, sondern durch geschickte Strukturierung entschärft. - EU-Druck wird einkalkuliert und ins Design eingebaut.
Der Bericht zeigt offen, dass politischer Druck aus Brüssel nicht abgewehrt, sondern in die Abstimmungsarchitektur integriert wird.
Dieser Bericht ist deshalb kein Relikt der Vergangenheit, sondern ein Lehrbuch der Machttechnik. Wer die Bilateralen III verstehen will, muss dieses Dokument kennen.
Quellenbox:
Das BJ-Dokument von 2004, juristisch korrekt eingeordnet
- Herausgeber: Bundesamt für Justiz (BJ)
- Datum: 1. Juni 2004
- Gegenstand: Analyse der Referendumsfähigkeit und der Genehmigungsarchitektur der Bilateralen II
- Charakter: interdepartementaler technischer Bericht (keine politische Stellungnahme)
Zentrale juristische Erkenntnisse:
- 7 von 8 Abkommen der Bilateralen II galten als grundsätzlich referendumsfähig.
- 1 Abkommen wurde gezielt so ausgestaltet, dass kein Referendum ausgelöst wurde (über autonome Verordnungs- und Umsetzungskompetenzen des Bundesrats).
- Mehrere Varianten der Genehmigung wurden durchgespielt:
- Gesamtpaket (verworfen wegen Einheit der Materie)
- Einzelabstimmungen (verworfen wegen zu hohem Nein-Risiko)
- Teilpakete (bevorzugt) zur politischen Absicherung.
Politische Bedeutung:
Dieses Dokument belegt schwarz auf weiss, dass bereits vor 20 Jahren nicht nur über Verträge verhandelt wurde, sondern ebenso über die Kontrolle des Volksentscheids.
Die Bilateralen III stehen exakt in dieser Tradition.
Ein Kernstück der Bilateralen III ist die sogenannte «dynamische Rechtsübernahme» mit «Decision Shaping»:
- Die EU macht Recht.
- Die Schweiz darf in der Entstehungsphase in Arbeitsgruppen, Ausschüssen und «Dialogformaten» ihre Sicht einbringen.
- Am Ende wird das übernommene Recht in die Schweiz hinuntergereicht mit einem gewissen Spielraum bei der Umsetzung.
Der Zwischenbericht hält fest, dass viele Kantone, Parteien und Verbände diese Konstruktion begrüssen. Man ist begeistert vom «Einbezug», vom «Decision Shaping», von der Möglichkeit, «frühzeitig Einfluss zu nehmen».
Nur: Was heisst das für den Souverän?
- Kein direktes Vetorecht zu einzelnen EU-Rechtsakten.
- Kein Referendum zu jeder relevanten Rechtsänderung.
- Stattdessen: ein Parlament, das in Weisungen und Artikeln des Parlamentsgesetzes «besser informiert» werden soll und dann im Rahmen der institutionellen Logik möglichst wenig Sand ins Getriebe streuen darf.
Die direkte Demokratie wird so vorverlagert und vernebelt:
- Nicht mehr der Bürger entscheidet über konkrete Normen.
- Sondern ein Mix aus Bundesrat, Verwaltung, Ausschüssen, Kommissionen und Verhandlungsdelegationen.
Kurz gesagt: Dynamisch ist nur die Rechtsübernahme. Die Entmündigung ist statisch.
Fakultatives Referendum – wenn es unbedingt sein muss
Beim Referendumsregime wird es besonders heikel.
- Ein Teil der Kantone und mehrere Verbände wollten ein obligatorisches Referendum, also garantierte Volksabstimmung über die Bilateralen III.
- Der Bundesrat und eine Mehrheit der Kantone halten dagegen: Das Paket betreffe nicht die «grundlegende Kompetenzverteilung» und sei deshalb nur dem fakultativen Referendum zu unterstellen.
Mit anderen Worten:
- Wenn das Parlament das Paket durchwinkt und kein Referendum ergriffen wird, gibt es keinen Volksentscheid.
- Selbst wenn ein Referendum zustande kommt, wird über vier grosse Blöcke abgestimmt, in denen zentrale Weichenstellungen (z. B. dynamische Rechtsübernahme, Streitbeilegungsmechanismus, Beihilfenregime, Stromabkommen) nur paketweise angenommen oder abgelehnt werden können.
Das ist eine klassische Friss-oder-stirb-Architektur:
- Wer gegen zentrale Punkte ist, muss das Ganze bekämpfen.
- Wer einzelne Verbesserungen will, muss massive Souveränitätskonzessionen mittragen.
Eine echte Volksdiskussion darüber, wie weit die Schweiz gehen will, findet so kaum statt.
Vernehmlassungen als Beschäftigungstherapie – das Muster EpG / IGV
Die Vernehmlassung zu den Bilateralen III ist kein Einzelfall, sondern fügt sich nahtlos in ein bereits bekanntes Muster:
-
Teilrevision Epidemiengesetz (EpG):
- Vernehmlassung abgeschlossen.
- Über 17’000 Seiten Stellungnahmen.
- Ein Jahr später: PDFs veröffentlicht, der politische Effekt bleibt aus.
Nächste Schritte: Fahrplan der Revision EpG (provisorisch):
- 2025–2026: Beratung der EpG-Revision im Parlament
- 2026: Vernehmlassung zur revidierten EpG-Verordnung
- 2028: Inkraftsetzung des revidierten Epidemiengesetzes und der Verordnung
Damit ist klar: Das nächste Zeitfenster für echten politischen Einfluss liegt nicht erst bei der Volksabstimmung, sondern bereits jetzt im parlamentarischen Prozess.
-
Revision der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV):
- Vernehmlassung durchgeführt.
- Nationalrat Rémy Wyssmann fragt nach der Gewichtung der Stellungnahmen.
- Der Bundesrat verweigert eine konkrete Antwort und verweist lediglich auf das Vernehmlassungsgesetz.
- Die eigentliche Entscheidungslogik bleibt intransparent.
-
Bilaterale III:
- Vernehmlassung mit über 1’000 Eingaben von Privatpersonen.
- Diese werden nicht umfassend ausgewertet.
- Im Zwischenbericht dominiert die Sicht von Kantonen, Parteien und Verbänden.
- Das Ergebnis: «klare Mehrheit».
Überall dasselbe Script:
- Umfang maximieren, damit nur noch Maschinen und spezialisierte Juristen den Überblick behalten.
- Gewichtung verschleiern, damit jede Kritik im Gesamtbild untergeht.
- Timing so wählen, dass echte Debatten kaum stattfinden (Sommer, Session-Ende, internationale Fristen).
Das ist keine direkte Demokratie mehr, sondern ein Partizipations-Theater.
Was die Bürger wirklich sagen – jenseits der PDF-Kulisse
Wer sich als Privatperson durch das Vernehmlassungsformular kämpft, macht das nicht aus Langeweile. Er oder sie hat in der Regel:
- Konkrete Sorgen um Souveränität, Neutralität und Volksrechte.
- Fragen zur dynamischen Rechtsübernahme («Wer entscheidet am Schluss? Wir oder der EuGH?»).
- Bedenken zur Anbindung in Bereichen wie Gesundheit, Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Strom.
Diese Stimmen sind nicht weniger wert, weil sie digitale Hilfsmittel nutzen.
Im Gegenteil:
- Gerade Bürgerinnen und Bürger ohne juristische Ausbildung profitieren davon, wenn sie sich durch KI, Mustervorlagen oder Netzwerke sprachlich helfen lassen.
- Die Quelle der Argumente ist nicht die Maschine, sondern die Realität ihres Lebens: Arbeitsplatz, Familie, Gesundheitswesen, Preise, Versorgungssicherheit.
Wenn der Bundesrat solche Stimmen aus dem Kern der Auswertung hinausdefiniert, schafft er eine Zweiklassen-Vernehmlassung:
- Klasse 1: Wer institutionell eingebettet ist, wird gehört.
- Klasse 2: Wer nur Bürger ist, wird verwaltet.
Das ist das Gegenteil des ursprünglichen Gedankens der Schweiz, in der der Staat vom Volk her legitimiert ist, nicht umgekehrt.
Was jetzt zu tun ist: Forderungen des Vereins WIR
Der Verein WIR hält fest:
- Offenlegung der Auswertungsmethodik
- Der Bundesrat muss im Detail darlegen, wie die Stellungnahmen zur Vernehmlassung zu den Bilateralen III gewichtet wurden.
- Es braucht eine transparente Unterscheidung zwischen:
- institutionellen Akteuren,
- Verbänden,
- Fachpersonen,
- Privatpersonen.
- Für jede dieser Gruppen sind die Zustimmungs- und Ablehnungsquoten gesondert auszuweisen.
- Gleichwertige Behandlung von Bürgerstimmen
- Einzeleingaben von Privatpersonen dürfen nicht pauschal entwertet werden, nur weil ein möglicher KI-Einsatz unterstellt wird.
- Entscheidend ist der Inhalt, nicht das Werkzeug.
- Falls der Bund den Einsatz von KI als problematisch erachtet, muss er dies vor Beginn der Vernehmlassung transparent deklarieren, und diese Vorgabe muss für alle Teilnehmer gleichermassen gelten, einschliesslich Verbänden, Anwaltskanzleien, PR-Agenturen und internen Rechtsdiensten. Eine nachträgliche, selektive Entwertung von Bürgerstimmen ist mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbar.
- Unabhängige Auswertung
- Die Auswertung von Vernehmlassungen mit grosser Tragweite (EpG, IGV, Bilaterale III) darf nicht ausschliesslich in denselben Ämtern stattfinden, die am Schluss vom Ergebnis profitieren.
- Es braucht unabhängige Gremien mit klaren Auswertungskriterien, publiziert vor Beginn der Vernehmlassung.
- Obligatorisches Referendum für die Bilateralen III
- Das Paket hat massive Auswirkungen auf Souveränität, Rechtsordnung und zukünftige Vertragsbindung der Schweiz.
- Ein fakultatives Referendum reicht hier nicht, es verschiebt die Verantwortung auf einzelne Komitees und Initianten.
- Die Bilateralen III gehören zwingend vors Volk, mit klarer Trennung der grossen Pakete (z. B. Stromabkommen separat, institutionelle Elemente separat).
- Stopp der demokratischen Simulation
- Vernehmlassungen müssen wieder das sein, was sie sein sollen: ein echtes Korrektiv, ein Instrument der Rückkoppelung an den Souverän.
- Solange der Bundesrat sich weigert, Gewichtungskriterien offen zu legen und Bürgerstimmen fair einzubeziehen, sind Vernehmlassungen nichts weiter als Beschäftigungstherapie.
Schluss: Der Moment der Klarheit
Die Vernehmlassung zu den Bilateralen III ist kein technisches Detail. Sie ist ein Demokratie-Stresstest.
Wenn mehr als 1’000 Bürgerinnen und Bürger sich hinsetzen, ihre Zeit investieren, ihre Bedenken formulieren und am Ende lernen müssen, dass ihre Eingaben als «KI-verdächtig» zur Seite geschoben werden, dann sendet das ein klares Signal:
«Wir hören euch nur, wenn ihr das sagt, was in unser Drehbuch passt.»
Der Verein WIR hält fest:
- Die direkte Demokratie ist kein Deko-Element für Bundesratskommuniqués.
- Vernehmlassungen sind kein Feigenblatt, um bereits beschlossene Verträge nachträglich zu legitimieren.
- «Klare Mehrheiten» sind nur dann etwas wert, wenn sie ehrlich zustande kommen und nicht durch geschickte Auswahl derjenigen, die überhaupt als Stimme gelten.
WIR werden nicht zuschauen, wie aus dem Souverän eine Statistenrolle gemacht wird.
Denn eines ist klar: Solange die Bevölkerung nur «mitreden» darf, damit sie nichts mehr zu entscheiden hat, ist unsere Aufgabe nicht erfüllt.
Dann beginnt sie erst.
Klartext zum Schluss: KOMPASS ist stark, aber reicht nicht
Die Initiative «Für eine direktdemokratische und wettbewerbsfähige Schweiz – keine EU-Passivmitgliedschaft» (KOMPASS) ist ein wichtiger Schritt. Über 111’000 Unterschriften, getragen von einem ungewöhnlich breiten politischen Spektrum, sind ein deutliches Signal: Die Bevölkerung will keine automatische Anbindung an fremdes Recht.
Aber hier darf es keine Illusionen geben:
KOMPASS allein stoppt die Bilateralen III nicht.
Sie wirkt nicht rückwirkend. Sie schützt die Zukunft, nicht automatisch die laufenden Verträge. Wenn die Bilateralen III vorher durchs Parlament gehen und kein Referendum ergriffen wird, dann sind sie völkerrechtlich in Kraft, bevor KOMPASS überhaupt zur Abstimmung kommt.
Darum gilt beides zugleich – ohne Entweder-Oder:
- 111’000 Unterschriften für KOMPASS sind stark.
- Aber 50’000 Unterschriften gegen die Bilateralen III sind überlebensnotwendig.
Wer glaubt, man könne den laufenden Souveränitätsabbau einfach «später» korrigieren, verkennt die Logik des Völkerrechts. Was einmal gebunden ist, wird nicht durch guten Willen gelöst, sondern nur durch harten politischen Konflikt.
Der Verein WIR sagt deshalb klar:
Nicht später retten, was man heute noch verhindern kann.
Die Zeit der Beruhigung ist vorbei. Jetzt entscheidet sich, ob die Schweiz auch in zehn Jahren noch selbst über ihr Recht bestimmen kann oder nur noch über dessen Umsetzung.
Wer das System hinter dieser Scheinbeteiligung vollständig verstehen will, kommt an unseren zwei Texten nicht vorbei: «Vernehmlassungen sind Beschäftigungstherapie für den Souverän» und «Das Vernehmlassungstrickspiel».
Das hier ist kein Einzelfall. Das ist ein Modell.










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