Ein weiteres Jahr ist vergangen, ohne Knall, ohne Aufprall. Und gerade deshalb lohnt sich ein kurzer Blick auf das, was wir gerne ausblenden: unsere Bequemlichkeit, unseren Pragmatismus und die Frage, wie viel Verantwortung wir bereit sind, abzugeben, solange alles funktioniert.
Neujahrsgruss zum Jahresende
Liebe Freunde,
schon wieder ist ein Jahr vorbei.
Und, Hand aufs Herz, es ist vermeintlich nicht viel passiert.
Die Alltagsoptimisten und Schulterzucker sagen: «Geht doch. Ist doch alles gut gegangen.»
Die Dauerwarner und Alarmglockenläuter sagen: «Wir sind der Wand wieder ein Stück näher gekommen.»
Und die Sinnsucher und Sternenbeobachter sagen: «Die Arkturianer der Galaktischen Föderation sind leider immer noch nicht gelandet, um uns zu retten.»
Willkommen in der Schweiz zum Jahresende.
Ein sehr schweizerisches Gefühl
Wir sind nicht böse. Wir sind nicht dumm. Wir sind nicht herzlos. Wir sind vor allem eines: pragmatisch.
Solange es nicht knallt, existiert es emotional nicht.
Solange etwas funktioniert, stellen wir es nicht infrage.
Und solange jemand anderes die Verantwortung trägt, schlafen wir ziemlich gut.
Ein sehr schweizerischer Reflex. Oder, etwas kürzer:
«Es ist ja noch immer gut gegangen.»
Die Schweiz als perfekter Gastgeber
Wir mögen Ordnung. Wir mögen Stabilität. Wir mögen Verlässlichkeit.
Und wir mögen es, ein guter Gastgeber zu sein.
Darum wohnen bei uns so viele nette Organisationen. Internationale, wichtige, weltbewegende. Sie fühlen sich hier wohl. Wir geben ihnen Büros, Immunitäten, Bankkonten, Stiftungen, Vertrauen und manchmal auch ein bisschen Ruhe vor lästigen Bürgern.
Neutralität ist schliesslich auch eine Dienstleistung.
Unser internationales Wohnzimmer
UNO, WHO, NATO-nahe Strukturen, GAVI, Club of Rome, BIZ, sie alle haben ihren Platz bei uns gefunden.
Wir stellen das Wohnzimmer, andere führen darin die Gespräche.
Das hat Tradition. Und es bringt Reputation. Und ganz oft auch viel Geld.
Fortschritt, den wir lieben
Wir sind ein fortschrittliches Land. Wirklich.
Wir mögen Tests, Zertifikate und digitale Lösungen.
Wir mögen Stäbchen in der Nase, wenn sie der Sicherheit dienen.
Wir mögen Überwachung, wenn sie gut gemeint ist.
Wir mögen anlasslose Kontrollen, solange sie ordentlich ablaufen.
Wir mögen die E-ID, weil sie so schön praktisch klingt.
Wir mögen Spritzen, wenn sie uns zu ungefährlichen Zeitgenossen machen.
Wir mögen bargeldloses Einkaufen, weil es so schön unkompliziert ist.
Wir mögen Lösungen, die uns Entscheidungen abnehmen.
Wir mögen Systeme, die für uns mitdenken.
Wir mögen Politiker, die uns möglichst wenig beschäftigen.
Wir mögen Bundesräte, die im Konsens sprechen und vor allem beruhigen.
Und wir mögen Verwaltungen, die vor allem sich selbst organisieren und möglichst wenig von uns wollen.
Alles für unsere Sicherheit, versteht sich. Und natürlich für den technischen Fortschritt.
Globale Verantwortung, bequem umgesetzt
Wir wollen das Richtige tun. Auch global.
Darum machen wir bei Sanktionen mit selbst wenn wir uns dabei nicht gerade einen Gefallen tun.
Darum verbuddeln wir CO₂ in Norwegen, damit wir ein gutes Gefühl haben.
Darum übernehmen wir internationale Regeln, weil man das halt so macht.
Mitmachen fühlt sich besser an als nachfragen.
Und das Wichtigste: Es funktioniert ja.
Noch gibt es keinen Aufprall.
Noch keinen echten Schock.
Noch keinen Punkt, an dem wir sagen müssten: «Jetzt wird es aber ernst.»
Also machen wir weiter. Ruhig. Ordentlich. Zuversichtlich.
Die andere Sicht
Manche sagen: Wir verlagern Risiken in die Zukunft.
Andere sagen: Wir delegieren Verantwortung nach oben.
Und wieder andere sagen: Das ist halt der Preis des Wohlstands.
Alle haben ein bisschen recht. Und ein bisschen nicht.
Eine unbequeme, aber ehrliche Frage
Vielleicht geht es am Ende gar nicht um richtig oder falsch.
Vielleicht geht es um einfache Fragen: Wie viel Bequemlichkeit verträgt eine Demokratie, bevor sie aufhört, eine zu sein?
Und trägt unser Wohlstand vielleicht dazu bei, dass wir gewisse Entwicklungen lieber nicht so genau anschauen?
Die Antworten darauf nehmen wir mit ins neue Jahr.
Zum Schluss
Dieser Neujahrsgruss ist kein Alarmruf. Kein Appell. Keine Belehrung.
Er ist eine Einladung zur Selbstbeobachtung. Mit einem Augenzwinkern. Und mit ein bisschen schweizerischer Ehrlichkeit.
Wir danken dir fürs Lesen, fürs Mitdenken und fürs Nicht-alles-sofort-Weglächeln.
In diesem Sinn: Ein gutes neues Jahr.
Und bleiben wir wach. Auf unsere Art.
Herzlich
Christian










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