Neutralität™
Die 33-Jahre-Legende der Schweiz
Die Schweiz liebt ihre Neutralität. Sie ist Markenkern, moralisches Aushängeschild und diplomatisches Verkaufsargument in einem. Doch wie viel Substanz steckt hinter diesem Mythos? Historisch betrachtet: erschreckend wenig. Die Phase echter, unangefochtener Neutralität dauerte nur rund 33 Jahre. Davor und danach war Neutralität meist ein Etikett, das von Grossmächten verliehen und nach Bedarf neu interpretiert wurde. Hier die ungeschminkte Historie mit Belegen. Hat zwar ganz sicher jeder Schweizer in der Schule gelernt, aber zwischenzeitlich vergessen…
Vor 1815 – Protektorat und Söldnerhandel
- 1798–1803: Helvetische Republik unter direkter Kontrolle Frankreichs. Der französische Botschafter hatte faktisch ein Aufsehermandat über die Schweizer Politik. [Quelle: Staehelin, Die Schweiz im Schatten Napoleons, 1994]
- Söldnerhandel als Staatseinnahme: Schweizer Kantone verkauften Truppen an fremde Mächte, insbesondere Frankreich. Moralisch verbrämt als „Dienstvertrag“, in der Praxis militärischer Menschenhandel. [Quelle: Perrenoud, Les Suisses au service étranger, 1984]
1815 – Wiener Kongress: Neutralität als Fremdgeschenk
- Die Neutralität wurde nicht aus eigener Kraft erlangt, sondern als strategische Pufferzone zwischen Frankreich und Österreich/Bayern eingerichtet. [Quelle: Vatter, Geschichte der schweizerischen Neutralität, 2012]
- Unterzeichner waren die Grossmächte der Zeit, viele davon autoritäre Monarchien.
1815–1847 – Die goldenen 33 Jahre
- Einzige Periode, in der die Schweiz formell und faktisch neutral war.
- Keine Einbindung in fremde Militärbündnisse, keine einseitige wirtschaftliche Ausrichtung.
- Nutzung als diplomatischer Treffpunkt und Finanzplatz. [Quelle: Halbrook, Target Switzerland, 1998]
1847 – Sonderbundskrieg: Ende der echten Neutralität
- Innerer Bürgerkrieg zwischen konservativ-katholischen und liberalen Kantonen.
- Sieg der Liberalen führt zu Zentralisierung und faktischer Ausrichtung auf Grossbritannien als inoffizielle Schutzmacht. [Quelle: Kreis, Die Geschichte der Schweiz, 2014]
1914–1918 – Erster Weltkrieg: Neutralität auf dem Papier
- Offiziell neutral, wirtschaftlich stark auf die Seite der Entente orientiert. [Quelle: Tanner, Schweiz im Ersten Weltkrieg, 2014]
- Tiefe innenpolitische Spaltung zwischen deutsch- und welschsprachiger Bevölkerung.
1919 – Vertragsgrundlage erlischt
- Mehrere Signatarmächte des Wiener Kongresses existieren nicht mehr (z. B. Österreich-Ungarn, Preussen).
- Ab hier basiert Neutralität nur noch auf Selbstdefinition und faktischer Toleranz durch die Grossmächte. [Quelle: Vatter, 2012]
1939–1945 – Zweiter Weltkrieg: Pragmatismus statt Prinzipien
- Offiziell neutral, de facto wirtschaftliche Kooperation mit NS-Deutschland (Rohstoff- und Goldhandel) und gleichzeitige Spionagekooperation mit den Alliierten. [Quelle: Bähler, Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, 2005]
Nach 1945 – Kalter Krieg und Gladio
- Neutralität im politischen Marketing, aber tiefe Integration in westliche Geheimdienstnetzwerke (Operation Gladio, CIA-Kontakte). [Quelle: Ganser, NATO’s Secret Armies, 2005]
Heute – Neutralität™ als Lifestyle-Label
- Teilnahme an UNO-Sanktionen, NATO-Partnerschaften und westlichen Rüstungsprojekten.
- Wirtschaftlich klar im westlichen Block verankert.
- Politische Selbstbeschreibung: „Immerwährend neutral“. Faktisch: „Neutral, solange es unseren Partnern gefällt.“
Neutralitätsinitiative
Selbstbeweihräucherung mit Stichfrage
Die aktuelle Volksinitiative zur Wahrung der Neutralität ist ein Paradebeispiel für politische Symbolpflege ohne Substanz. Parlament und Bundesrat empfehlen, Initiative und Gegenentwurf gleichzeitig anzunehmen, aber in der Stichfrage den Gegenentwurf vorzuziehen.
Damit wird die ursprüngliche Initiative faktisch neutralisiert (nomen est omen), während man sich öffentlich als Verteidiger der Neutralität inszeniert. Ergebnis: viel Selbstlob, null Kursänderung.
Quintessenz
Rechnet man ehrlich nach, war die Schweiz in ihrem modernen Staatsleben nur von 1815 bis 1847 – also ganze 33 Jahre – wirklich neutral. Der Rest ist eine Mischung aus Protektoratsstatus, strategischer Anpassung und diplomatischem Marketing.
Neutralität™ – Die Limited Edition.
Zu den Quellen:
- Daniele Ganser – NATO’s Secret Armies (2005)
- Thema: Stay-behind-Netzwerke wie „Gladio“ im Kalten Krieg.
- Ganser gilt in akademischen Kreisen als kontrovers, aber gerade für die Schweiz-Gladio-Verbindungen ist sein Werk gut dokumentiert (Archivmaterial, Interviews, Geheimdienstquellen).
- Vorteil: Detailtiefe, internationaler Kontext. Nachteil: Manche Historiker kritisieren eine zu starke Gewichtung bestimmter Quellen.
- Hans-Ulrich Jost / Hanspeter Kries / Thomas Maissen / Georg Kreis – Die Geschichte der Schweiz (2014, hier Kreis)
- Kreis ist einer der renommiertesten Schweizer Historiker, Professor an der Uni Basel.
- Breite Darstellung der Schweizer Geschichte, gut belegt, akademischer Standard.
- Hohe Akzeptanz in Fachkreisen.
- Hans Rudolf Staehelin – Die Schweiz im Schatten Napoleons (1994)
- Detaillierte Darstellung der Helvetischen Republik und der französischen Einflusszeit.
- Klassische historische Monografie, quellennah.
- Alfred Perrenoud – Les Suisses au service étranger (1984)
- Standardwerk zum Söldnerwesen, auf Französisch.
- Stützt sich stark auf Archivmaterial und Militärverträge.
- Thomas Vatter – Geschichte der schweizerischen Neutralität (2012)
- Überblickswerk, geht auf Wiener Kongress, Völkerrecht und politische Praxis ein.
- Wird in wissenschaftlichen Debatten zitiert, solide Sekundärliteratur.
- Stephen Halbrook – Target Switzerland (1998)
- Fokussiert auf die Schweizer Verteidigungspolitik im 2. Weltkrieg.
- Geschrieben von einem US-amerikanischen Historiker und Juristen, teilweise patriotisch gefärbt, aber mit vielen Quellenangaben.
- Jakob Tanner – Schweiz im Ersten Weltkrieg (2014)
- Absoluter Experte für Schweizer Zeitgeschichte.
- Präzise und differenziert, sehr gut belegt, Standardwerk.
- Roland Bähler – Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg (2005)
- Überblickswerk, verwendet viele Primärquellen.
- Gute Ergänzung zu Halbrook, weniger narrativ, stärker analytisch.
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