Swissmedic – Aufsicht oder Attrappe?
Oder: Wie man Kontrolle behauptet, ohne sie auszuüben
Wie die Schweiz eine Arzneimittelaufsicht kommunizierte, die strukturell nie existierte
Die Debatte um Swissmedic wird seit Jahren entlang einer falschen Achse geführt. Meist kreist sie um Schuld, Versagen oder individuelles Fehlverhalten. Doch diese Perspektive greift zu kurz. Sie verfehlt den Kern.
Die entscheidende Frage lautet nicht: Hat Swissmedic während der Pandemie versagt? Sondern:
«War Swissmedic strukturell überhaupt in der Lage, das zu leisten, was Politik, Medien und Öffentlichkeit von ihr behauptet haben?»
Diese Frage ist unbequemer, weil sie nicht nach Schuldigen sucht, sondern nach Systemlogik. Und genau deshalb ist sie die wichtigere.
Der entscheidende Punkt:
Pharmacovigilance gibt es, nur nicht die, die Sie sich vorstellen
Es wäre formal korrekt, und politisch bequem, festzuhalten, dass Swissmedic über eine Pharmacovigilance verfügt (also über ein System zur Überwachung und Erfassung von Nebenwirkungen nach der Zulassung von Arzneimitteln). Organigramme zeigen entsprechende Abteilungen, Berichte dokumentieren Prozesse, Webseiten erläutern Zuständigkeiten. Wer hier stehen bleibt, kann beruhigt nicken und zum nächsten Thema übergehen.
Doch genau hier beginnt das Problem. Denn die entscheidende Frage lautet nicht, ob eine Pharmacovigilance, also eine Arzneimittelüberwachung, existiert, sondern ob sie inhaltlich das leistet, was Öffentlichkeit, Politik und Medien darunter verstehen.
Pharmacovigilance wird landläufig als aktive Sicherheitsüberwachung verstanden: als systematisches Beobachten, eigenständiges Analysieren, kritisches Hinterfragen und gegebenenfalls korrigierendes Eingreifen. Genau dieses Bild wurde während der Pandemie immer wieder bemüht.
Die Realität sieht nüchterner aus. Präzise und nicht widerlegbar lässt sie sich so beschreiben:
«Swissmedic betreibt keine eigenständige, wirksame, analytische Pharmacovigilance, sondern eine administrative Weiterleitung von Meldungen innerhalb internationaler Systeme.»
Das ist keine polemische Zuspitzung, sondern die logische Konsequenz eines Systems, das auf Arbeitsteilung, Reliance (also der bewussten Übernahme und Anerkennung ausländischer Bewertungen) und internationale Harmonisierung ausgelegt ist. Swissmedic ist in diesem System nicht Analytiker, sondern Knotenpunkt. Nicht Ermittler, sondern Verteiler.
Wer das kritisiert, kritisiert nicht individuelles Handeln, sondern institutionelle Konstruktion. Und genau deshalb ist diese Feststellung so unbequem.
Was Swissmedic tatsächlich tut und was auffällig konsequent unterbleibt
Ein Blick in die eigenen Publikationen von Swissmedic, insbesondere in den Geschäftsbericht 2024, bringt Klarheit, sofern man bereit ist, zwischen den Zeilen zu lesen. Die dort beschriebenen Tätigkeiten sind konsistent, nachvollziehbar und offen kommuniziert. Gerade deshalb sind sie so aufschlussreich.
Swissmedic sammelt Meldungen über vermutete Nebenwirkungen. Diese stammen von Ärzten, von Patienten sowie von den Herstellern selbst. Dieses System ist freiwillig, fragmentiert und international üblich.
Diese Meldungen werden anschliessend in internationale Datenbanken eingespeist, namentlich in das WHO-System VigiBase, das vom Uppsala Monitoring Centre (UMC) betrieben wird. Dort werden sie zusammengeführt, statistisch ausgewertet und auf mögliche globale Signale hin untersucht.
Swissmedic selbst führt keine eigenständige epidemiologische Auswertung dieser Daten durch. Stattdessen übernimmt sie externe Bewertungen und kommuniziert diese als nationale Sicherheitsüberwachung.
Die Gates‑Frage:
Keine Verschwörung, aber eine verdammt berechtigte Nachfrage
Im Geschäftsbericht von Swissmedic wird ein Memorandum of Understanding mit der Gates Foundation ausdrücklich erwähnt. Der Zweck dieser Zusammenarbeit ist die «Stärkung regulatorischer Systeme in Ländern mit tiefem und mittlerem Einkommen».
Hier ist sprachliche Präzision entscheidend:
Falsch wäre: «Bill Gates finanziert Swissmedic.»
Korrekt ist: Drittmittel beeinflussen strategische Prioritäten und binden personelle Ressourcen.
Die sachlich unangreifbare Frage lautet:
«Warum investiert Swissmedic, unter Mitwirkung externer Stiftungen, erhebliche personelle und strategische Ressourcen in internationale Regulierungsmissionen, während die nationale Pharmakovigilance strukturell passiv und abhängig bleibt?»
Oder noch zugespitzter:
«Welche messbaren Sicherheitsgewinne für Schweizer Patientinnen und Patienten resultieren aus den international kofinanzierten Tätigkeiten von Swissmedic?»
Das sind Leistungsfragen. Keine Unterstellungen.
Der eigentliche Skandal:
Nicht Swissmedic, sondern das Märchen über Swissmedic
Der Kern des Problems liegt nicht im Handeln der Behörde, sondern im politischen und medialen Framing.
Swissmedic wurde als unabhängiger Sicherheitsanker präsentiert,
- obwohl sie strukturell ein Reliance-Regulator ist
- obwohl das Heilmittelgesetz ausdrücklich die Übernahme fremder Bewertungen erlaubt (Art. 13 TPA)
- obwohl eigene Tiefenanalysen systemisch nicht vorgesehen sind
Die Täuschung lag nicht im Tun, sondern in der Darstellung.
Oder klar formuliert:
«Die Schweiz hat Swissmedic als unabhängige Schutzinstanz präsentiert, obwohl sie operativ nur ein Endpunkt globaler Entscheidungsströme ist.»
Die Realität in fünf Schritten
Die Realität in fünf Schritten, auch für den letzten Zweifler verständlich
Eine belastbare Analyse folgt fünf klaren Schritten:
- Was die Öffentlichkeit glaubt
«Swissmedic überwacht Sicherheit kontinuierlich und unabhängig.» - Was rechtlich vorgesehen ist
Regulatory Reliance, Art. 13 TPA, internationale Arbeitsteilung im Access Consortium. - Was operativ passiert
Passive Meldung → WHO-UMC → internationale Bewertung → nationale Kommunikation. - Was fehlt
Eigenständige Analyse, nationale Sicherheitsprüfung, unabhängige Wirksamkeits- und Risikobewertung. - Die politische Folge
Swissmedic fungierte als Legitimitätsanker für bundesrätliche Notrechtspolitik.
Schlussfolgerung ohne Ausreden:
Keine Aufsicht, sondern eine gut gemachte Attrappe
Man kann Swissmedic kaum strafrechtlich belangen, weil sie genau so funktioniert hat, wie sie funktionieren sollte.
Und genau das ist das eigentliche Problem.
Swissmedic ist nicht korrupt.
Swissmedic ist nicht inkompetent.
Swissmedic handelt nicht böswillig.
Swissmedic ist strukturell ungeeignet für das, was Politik und Öffentlichkeit ihr zugeschrieben haben.
Oder zugespitzt:
Die Schweiz hatte während der Pandemie keine unabhängige Arzneimittelaufsicht, sondern eine glaubwürdige Attrappe davon.
Diese Feststellung greift keine einzelne Institution an. Sie greift ein Narrativ an und korrigiert es.
Denn was als «enge, kontinuierliche Überwachung» verkauft wurde, war in Wirklichkeit ein System aus:
- regulatorischer Anlehnung,
- passiver Meldestruktur,
- Herstellerberichten,
- und internationaler Signalaggregation.
Eine eigenständige, kontinuierliche Sicherheitsüberwachung aus eigener Hand fand nicht statt und findet auch heute nicht statt. Weder während der Pandemie noch in der laufenden Überwachung der mRNA-Impfstoffe.
Swissmedic führt keine eigene epidemiologische Auswertung dieser Daten durch. Sie stützt sich auf internationale Datenströme, externe Bewertungen und herstellerseitige Berichte. Das ist regelkonform. Aber es ist keine unabhängige Aufsicht.
Wer trägt dann die Verantwortung?
Nicht die Fachbehörde, die innerhalb ihres Mandats gehandelt hat. Sondern jene Stellen, die:
- dieses Mandat definiert haben,
- diese strukturellen Grenzen kannten,
- und dennoch öffentlich etwas anderes behauptet haben.
Swissmedic ist fachlich unabhängig, aber politisch gewollt. Und genau für dieses System trägt das EDI die Verantwortung.
Nicht strafrechtlich im engeren Sinn. Aber politisch, institutionell und demokratisch.
Warum diese Klarstellung entscheidend ist
Wer diese Realität benennt, delegitimiert keine Behörde. Er entlastet sie sogar. Von Erwartungen, die sie nie erfüllen konnte.
Was delegitimiert, ist etwas anderes:
- jahrelange Überhöhung,
- kommunikative Beschwichtigung,
- und das konsequente Verschweigen struktureller Grenzen.
Diese Korrektur ist keine Abrechnung. Sie ist die Voraussetzung für jede ernsthafte Aufarbeitung und für jede glaubwürdige Reform der Arzneimittelaufsicht in der Schweiz.
Denn Aufarbeitung beginnt nicht mit Schuldzuweisungen. Sie beginnt mit einem ehrlichen Satz:
Nicht einzelne Akteure haben versagt, sondern ein System, das Kontrolle durch Verfahren ersetzt hat.
Und genau dieses System gehört endlich offengelegt, diskutiert und politisch verantwortet.










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