Vernehmlassungen sind
Beschäftigungstherapien für den Souverän
Wie der Bundesrat die EU-Verträge durchwinken will – und das Volk mit PDF-Simulationen ruhigstellt
Hereinspaziert in die direkte Demokratie, Version 2.0 – powered by Alibi-Verfahren. Der Souverän, einst stolzer Entscheider, wird heute mit PDFs zugemüllt, mit Fristen beschäftigt und mit Worthülsen eingelullt. Man nennt das dann Vernehmlassung – doch in Wahrheit ist es nichts weiter als eine politische Beruhigungspille: „Wir haben euch doch gefragt… oder etwa nicht?“
Ja, man hat uns gefragt – aber nur, nachdem der Kurs längst gesetzt war. Die grossen Deals sind abgeschlossen, die Abkommen unterschrieben, die Gesetzesentwürfe vorformuliert, die Narrative in den Medien geimpft. Was dann folgt, ist ein Pseudoprozess, der Bürgerinnen und Bürger in eine kafkaeske Feedback-Schleife schickt. Schreiben, korrigieren, mahnen, begründen – und am Ende landet alles im digitalen Papierkorb der Verwaltung. Antwort des Bundesrats? Zur Kenntnis genommen.
Vernehmlassungen sind der neue Sandkasten für Erwachsene
Hier darf der Souverän spielen, während im Hintergrund die Lobbyisten längst das Regierungsviertel tapeziert haben. Und wehe dem, der sich einbildet, seine gut begründete Eingabe könnte tatsächlich etwas ändern – der wird bald merken, dass Mitmachen nicht mitbestimmen heisst. Und Mitsprache ist nicht gleich Einfluss.
Die Wahrheit ist unbequem
Die direkte Demokratie wird von oben herab leergeräumt, leise, systematisch, technokratisch. Und das mit einem perfiden Trick: Man lässt uns mitreden, damit wir das Maul halten.
Aber nicht mit uns. Nicht mit dem Verein WIR.
Denn während man uns EU-Verträge als logischen Fortschritt verkauft, erinnern wir uns an ein anderes demokratisches Trauerspiel: die Teilrevision des Epidemiengesetzes (EpG) .
Auch hier: Vernehmlassung bis 22. März 2024 – und dann: Funkstille. Ein Jahr lang. Und am 3. April 2025, ein Jahr später, endlich: die Publikation. Acht umfangreiche PDFs, insgesamt über 17‘000 Seiten! Alleine die wohl interessanteste Datei – “Kantone, Parteien, Organisationen“ – hat über 4‘000 Seiten. Da hat wohl ein Student seine gesamten Semesterferien geopfert, um alle Antworten zu scannen und zu sortieren. Alle Achtung! Weil das so lange gedauert hat, liegt der Ergebnisbericht natürlich noch nicht vor.
17‘000 Seiten – das ist harter Tobak. Auch wenn man das nicht einem (Jura?)Studenten überlässt, sondern besser der Künstlichen Intelligenz (KI). An dieser Stelle können WIR dem BAG Perplexity AI empfehlen. Die kriegt das hin, wenn man ihr nur gut zuredet.
Aber was soll das Ganze? Wie sollen auf 17‘000 Seiten geäusserte Kritik, Beifall, Ergänzungswünsche in einen revidierten Entwurf der Teilrevision einfliessen? Kann das mal jemand beleuchten?
Und jetzt? Nächster Akt: Die EU-Verträge
Die Vernehmlassung zum “Paket zur Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit der Europäischen Union“ soll – so der Bundesrat am 19. Februar 2025 – “noch vor Sommer 2025“ eröffnet werden. Wann auch immer dieser Sommer beginnt. Vielleicht bereits im Juni.
Denn schon am 2. April 2025 wurde das EU-Programmabkommen (EUPA) in Brüssel paraphiert . Die offizielle Unterzeichnung ist für November vorgesehen. So geht Demokratie im Schnellkochtopf.
Das EU-Programmabkommen (EUPA) – also der Einstieg in Horizon Europe, Euratom, Digital Europe, Erasmus+ und EU4Health – ist ebenfalls paraphiert. Und obwohl es noch nicht ratifiziert ist, soll es schon vorläufig angewendet werden. Ganz nach dem Motto:
„Vertragliche Fakten schaffen, bevor jemand auf die Idee kommt, darüber abstimmen zu wollen.“
Und jetzt zurück zur Vernehmlassung: Würde man annehmen, dass diese mehr Aufmerksamkeit erzeugt als die zum Epidemiengesetz? Ja! Schliesslich geht es hier nicht um eine Verordnung über Schutzmasken, sondern um das Verhältnis Schweiz – EU auf Jahrzehnte hinaus. Die Zahl der Rückmeldungen dürfte also nicht unter 17‘000 Seiten liegen. Vielleicht 20‘000? 30‘000? Wer weiss.
Aber dann müssen wir ganz nüchtern fragen: Wie genau soll das eigentlich funktionieren, liebe Freunde der partizipativen Demokratie? Wer liest das? Wer verarbeitet das? Wo bitte ist die vielbeschworene juristische Schwarmintelligenz, wenn es darum geht, sich durch diesen Wust zu arbeiten – und am Ende ein verständliches Gesetz draus zu machen, ohne dass alle Beteiligten schreiend davonlaufen?
Vernehmlassungen für Dummies?
Könnte jemand bitte eine Gebrauchsanweisung schreiben? Oder am besten gleich einen Ratgeber für die Bundesverwaltung: “Vernehmlassungen für Dummies – Wie man Bürgerbeteiligung simuliert, ohne den Bürger zu stören.“
Vielleicht hilft auch ein KI-gestütztes PDF-Bingo-Tool: „Wenn dreimal WHO-kritisch fällt, dann bitte löschen. Wenn jemand das Ständemehr fordert, mit ‚populistisch‘ taggen.“ Oder einfach gleich an ChatGPT übergeben – unter der Rubrik „Feedback aus der Demokratievergangenheit“.
Der Punkt ist: Der demokratische Schein ist nicht das demokratische Sein. Und solange man das Volk mit Feedback-Formularen beschäftigt, während die Verträge längst paraphiert, unterschrieben und vielleicht auch schon angewendet werden, ist das Ganze nur noch eines: ein politischer Etikettenschwindel mit Fristsetzung.
So nicht!
Aber noch ist es nicht zu spät. Noch können wir den Vorhang lüften. Noch können wir sagen: SO NICHT.
Denn wir wissen: Die Vernehmlassung zu den EU-Verträgen ist mehr als eine Formalität. Sie ist der Lackmustest unserer direkten Demokratie. Und wenn man den Souverän weiter als Staffage behandelt, dann wird er irgendwann von der Galerie auf die Bühne springen.
WIR sind bereit. Sind es die anderen auch?
0 Comments